Die dunkelsten Tage der Flensburger und der deutschen Geschichte

13.05.2020

Keine Stadt kann sich ihre Geschichte aussuchen. So wenig wie Nürnberg die Stadt der Reichparteitage hatte werden wollen, hatte die Fördestadt sich darum bemüht „Reichshauptstadt“ zu werden. Historisch korrekt muss es heißen: Flensburg wurde nach dem Willen des Nachfolger Hitlers, Großadmiral Karl Dönitz, Sitz der „Geschäftsführenden Reichsregierung“. Die Wahl wird aus der Not geboren.

Allein der Norden Schleswig-Holsteins ist von kriegerischen Auseinandersetzungen weitgehend unberührt. In Flensburg-Jürgensby steht der letzte intakte Reichssender. Über ihn verkündet am 7. Mai 1945 um 12.45 Uhr Graf Schwerin von Krosigk die bevorstehende Kapitulation und damit das Ende des 2. Weltkrieges.

21 Tage hat diese „Gespenster-Regierung“ in Flensburg existiert. Ihren Anfang nimmt sie am 30. April 1945. Drei Stunden nach Hitlers Selbstmord erhält Großadmiral Karl Dönitz aus Berlin die Mitteilung, der „Führer“ habe ihn zu seinem Nachfolger bestimmt. Der Admiral residiert zu der Zeit mit seinem Stab als Befehlshaber der „Nordfestung“ in der Nähe von Plön.

Einen Tag später, am 1. Mai, erfahren aufmerksame Flensburgerinnen und Flensburger aus ihren Volksempfängern die offizielle Heldentod-Fassung. „Der Führer sei im heldenhaften Kampf vor dem Feind gefallen“!

Deutschland liegt in Trümmern. Das „Dritte Reich“ geht seinem Ende entgegen. Weltweit herrschen Tod und Trauer, Not und Verzweiflung. Mehr als zwölf Millionen Menschen, unter ihnen über sechs Millionen Juden, werden Opfer der NS-Verbrecher. Eine totale Niederlage zeichnet sich ab. Nur in Schleswig-Holstein, ein Land voller Flüchtlinge, Heimatvertriebenen und zurückkehrenden Soldaten, haben die Alliierten noch nicht Fuß gefasst.

Da britische Panzerverbände auf Lübeck vorrücken, entscheidet Dönitz seinen Regierungssitz nach Flensburg zu verlegen. Doch noch vor seinem Eintreffen wird die Fördestadt am 2. Mai 1945, nach Unterlagen des Bundesarchivs in Koblenz, von etwa 150 hohen SS-Männern unter Führung des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, heimgesucht. Zu denen, die an diesem Tag Flensburg als letzte Zuflucht ansehen, gehören ranghöchste Nationalsozialisten, die Führungscliquen der Konzentrationslager und Chefs der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), unter ihnen der ehemalige berüchtigte KZ-Kommandant Rudolf Höß, der Massenmörder von Auschwitz. Per Schiff und Bahn treffen an diesem 2. Mai auch grausam gequälte, gemarterte, hungernde KZ-Häftlinge aus Sachsenhausen und Neuengamme ein.

Am späten Abend gibt es Bombenalarm für die überfüllte Stadt. Erich Cordsen, Flensburger, ein ausgemusterter Soldat, notiert für diesen Tag in sein Tagebuch: „Heute haben wir wieder einen Stromausfall, weil es in der Nacht einen fürchterlichen Bombenangriff gab. Später lese ich in unserer Zeitung. Es hat bei diesem Luftangriff über 150 Verletzte und 56 Tote gegeben.“

Donnerstag, d. 3. Mai 1945, erster Tag der Reichsregierung Dönitz.

In der Nacht auf den 3.5. ist Dönitz in Flensburg eingetroffen und bezieht vorerst seine Unterkunft auf dem Dampfer „Patria“. Pünktlich um 10 Uhr am Vormittag nimmt die Reichsregierung ihre Amtsgeschäfte in Flensburg Mürwik auf. Fast zeitgleich verlagert Generalfeldmarschall Ernst Busch sein Hauptquartier von Hamburg in das Dorf Kollerup im ehemaligen Kreis Flensburg-Land.

In den Abendstunden des 3. Mai beginnt der Reichssender Flensburg mit seinen Übertragungen. Die Radiostation ist im Norderhofenden, im dortigen Postgebäude, untergebracht. Die Reichweite dieses letzten Senders der Regierung kommt über Hamburg nicht hinaus, was die Verantwortlichen vermutlich gar nicht registriert haben. Mit einer Rede über Ruhe, Ordnung und Disziplin des ehemaligen Rüstungsminister Albert Speer beginn das Sendeprogramm.

In Cordsen’s Tagebuch findet sich der Vermerk: „Was bei den Nationalsozialisten Rang und Namen hat, flaniert in den Abendstunden auf unseren Straßen. Viele von ihnen sind alkoholisiert und randalieren. Mich stößt dieses Verhalten ab“.

Freitag, d. 4. Mai 1945, zweiter Tag der Reichsregierung Dönitz.

An diesem Tag wird Flensburg zur offenen Stadt erklärt. Auf dem Kriegsschiff „Paul Jacoby“ wird Gericht gehalten. Angeklagt sind die Matronen Werner Schneider, Kurt Rößler und Richard Jungling. Ihnen wird zur Last gelegt, die Kreiselkompassanlage ihres Bootes zerstört zu haben, weil sie dessen Auslaufen zum Einsatz in Kurland verhindern wollten. Im Gerichtsprotokoll ist u.a. nachzulesen: „Die Kriegsmarine muss und wird anständig aus diesem Krieg hervorgehen! Wegen der offensichtlichen Sabotage werden alle drei zum Tode verurteilt“. Diese Urteile werden verkündet, obwohl an diesem Freitag Teile der Wehrmacht in Nordwest-Deutschland gegenüber den britischen Streitkräften kapitulieren.

Am Vormittag dieses 4.5. erreicht, wie bei Prof. Dr. Gerhard Paul einem äußerst kenntnisreichen Historiker nachzulesen ist, untergebracht in Zugteilen die für Vieh vorgesehen sind, ein Transport aus dem KZ Neuengamme den Flensburger Bahnhof. Die Häftlinge brüllen nach Wasser. Die Zustände sind menschenunwürdig. Einige Flensburger helfen, andere wenden sich vor Angst ab. Bereits am Tag zuvor waren Inhaftierte des KZ Stutthof auf einem Lastkahn im Hafen mit 1.000 Opfern eingetroffen. Nur 630 überleben diese Fahrt wie Gerhard Paul schreibt. Die Leichen von 25 Häftlingen werden notdürftig am Strand von Fahrensodde bestattet.

Die Transporte mit den KZ-Opfern werden nur von wenigen Flensburgerinnen und Flensburgern zur Kenntnis genommen, zu sehr sind die Menschen mit ihrem eigenen Elend, ihrer persönlichen Not beschäftigt. Das gilt auch für den Autor des Tagebuches. Für das Kabinett Dönitz sind die Züge und Boote mit den Opfern aus den Konzentrationslagern nur ein Randthema, und so bleibt es auch.

Hinter vorgehaltener Hand erfährt Erich Cordsen von einem Bekannten in Uniform, dass die Feldpolizei, wie die Gendarmerie, in den Straßen der Stadt nach Soldaten fahndet, die ihre Truppen unerlaubt verlassen haben. „Auf allerhöchsten Befehl sind die Polizeikräfte hinter den Fahnenflüchtigen her“!

Sonnabend, d. 5. Mai 1945, dritter Tag der Reichsregierung Dönitz.

In den frühen Morgenstunden, Punkt acht Uhr, tritt die Teilkapitulation für Nordwest-Deutschland in Kraft. Der Krieg in Schleswig-Holstein ist beendet. Obwohl bereits Waffenruhe herrscht, fallen um 10 Uhr am Tremmeruper Weg, auf dem Marineplatz, Schüsse. Sie stammen vom Erschießungskommando eines Standgerichtes. Erschossen werden die drei Matrosen, die am Vortage zum Tode verurteilt wurden. Wie es der Vorschrift entspricht, erhalten Werner Schneider, Richard Jungling und Kurt Rößler, als sie bereits tot auf die Erde gesunken sind, noch zwei sogenannte Gnadenschüsse!

An diesem Sonnabend, an dem weiter fieberhaft die Stadt nach abtrünnigen Soldaten durchkämmt wird, geht für die Nazigrößen, die KZ-Verantwortlichen, für hochrangige SS- und Gestapo-Leute die Schaffung neuer Identitäten weiter. Die Aktion läuft bereits im Polizeipräsidium wie in der Marineschule seit einigen Tagen. Die Auftraggeber werden mit gefälschten Soldbüchern und auf Wunsch auch mit weiteren Papieren ausgestattet, die ihnen eine „geläuterte“ Herkunft bescheinigen. Wer es wünscht, erhält zudem eine entsprechende Uniform oder Zivilkleidung. Normalen Soldaten ist der Zutritt in die Fälscherwerkstätten strengstens untersagt!

Der Krieg ist zwar beendet, doch die Hinrichtungen von sog. Desserteuren gehen weiter, auch in Flensburg! Zu den Beschuldigten und am 5. Mai zum Tode verurteilt, gehört Asmus Jepsen, der in Neukirchen in Angeln beheimatet ist. Das Exekutionskommando erschießt ihn um 20.30 Uhr. Ein Gnadengesuch von Jepsen lehnt der Großadmiral „aus Gründen der Manneszucht“ ab. Jepsen, 43 Jahre alt, soll einen Sonderzug von Plön nach Flensburg mit Lebensmitteln und Geheimdokumenten überführen. Am 4.5. trifft der Zug am Bahnhof von Sörup ein. Dort ist ein Weiterkommen nicht möglich, weil der Ort durch Flüchtlinge und Soldaten hoffnungslos überfüllt ist. Wegen der Notlage der Menschen dort gibt Jepsen die Lebensmittel frei und lässt, wie es die Vorschrift verlangt, die Dokumente verbrennen. Er entpflichtet die Soldaten und begibt sich am Abend zu seiner Familie nach Neukirchen an der Flensburger Förde.

Ordnungsgemäß meldet er sich am nächsten Tag beim Bürgermeister der Gemeinde Sörup, um seine Dienstgeschäfte fortzusetzen. Trotzdem wird er wenige Stunden später verhaftet und von einem Standgericht wegen Fahnenflucht im Felde und der Verletzung der Dienstpflicht zum Tode verurteilt.

In einem beklemmenden wie kritischen Artikel hat der ehemalige Chefredakteur des Tageblattes, Stephan Richter, am 17.5.2015 über das Schicksal von Jepsen eindringlich berichtet und dessen „Abschiedsbrief“ an seine Familie veröffentlich, in dem es u.a. heißt: „Doch handelte ich in redlichster Absicht … damit wir alle in einen schönen Vaterland leben konnten. Leider ist es anders geworden …“ Ich grüße Euch alle zum letzten Male. Dein Asmus und Euer Papa“.

Ein Straßenschild am Flensburger Stadtrand erinnert seit 1997 an Asmus Jepsen.

Sonntag, 6. Mai 1945, vierter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Der „Hitler“-Nachfolger Dönitz enthebt Heinrich Himmler, den Reichsführer der SS, aller seiner Ämter, obwohl er zwei Tage zuvor ihn noch in seinen Aufgaben bestätigt hat. Um das Wohlwollen der anrückenden Briten zu sichern, setzt der Großadmiral auf eine „zivile Regierung“. Dessen Radio-Ansprache an diesem Tag haben Tonträger überliefert. Es ist ein hohes Lied auf den Mut, die Tapferkeit und die Leistung der Marine des 3. Reiches: „Makellos legt ihr nach einem Heldenkampf ohnegleichen die Waffen nieder. Ihr habt gekämpft wie die Löwen“! Zwischen den Lobeshymnen wird die Angst des ehemaligen Oberbefehlshabers der Marine erkennbar, dass die Marine nicht wieder wie beim Matrosenaufstand 1917 in Kiel und ihres Verhalten 1918 am Ende des 1. Weltkrieges in Misskredit gerät, weil sie der politischen Führung in den Rücken fällt.

Im Tagebuch von Erich Cordsen ist zu diesem Sonntag zu lesen: „Wir haben in unserer Wohnung alle „Führer“-Fotos vernichtet. Wie ich gehört habe, gibt es bei der Marine den Befehl, keine Hitler-Bilder abzuhängen, die sollen wohl aller Welt ihre Treue bis über den Tod des „Führers“ hinaus beweisen“!

Noch am Abend dieses Tages verlässt der SS-Mann Himmler, über Jahre für alle Konzentrationslager und die Judenverfolgung verantwortlich, Flensburg. Er kriecht in Hüholz in Angeln unter, später im Dorf Kollerup. Dort tauscht er seine SS-Uniform gegen die eines Feldwebels der Wehrmacht. Seinen Lippenbart hat er abrasiert, sich seiner Brille entledigt und eine Augenklappe umgebunden. In seinem Soldbuch steht der Name „Heinrich Hitzinger“. Er flieht über Umwege nach Niedersachsen, wo er am 23. Mai durch eine Zyankali-Ampulle, die in einer Zahnlücke versteckt war, sich selbst tötet.

Montag, d. 7. Mai 1945, fünfter Tag der Reichsregierung Dönitz.

In Erich Cordsens persönlichen Unterlagen wird auf eine Radioansprache von Graf Schwerin von Kosigh hingewiesen. Ihn hat Dönitz zum neuen Außenminister ernannt.

Er will, dass Einigkeit und Recht und Gerechtigkeit die Werte im kommenden Deutschland sein sollen. Was Cordsen nicht erfährt, dass nach Befehl der Regierung von diesem Tage der Hitlergruß weiter der Gruß der Wehrmachtsangehörigen sein soll.

Nach den Engländern sind jetzt auch am Vortage die Amerikaner in Flensburg eingetroffen. Ihre Truppen besetzen den Flugplatz Schäferhaus.

Täglich und pünktlich tagt die Regierung Dönitz im „Sonderbereich Mürwik“, wie es offiziell heißt. Wie stets sind alle Kabinettsmitglieder korrekt gekleidet, erfahren Bedienung, ausreichend Essen und stets dazu einen Schnaps. Das ehemals Großdeutsche Reich schrumpft durch diese Sonderzone von Kielseng bis nach Meierwik auf etwa 7 Kilometer die Küste entlang. Landeinwärts ist die Bahnlinie Glücksburg-Flensburg die Grenze. In den Kapitulationsverhandlungen ist der Regierung von den Alliierten diese Enklave, nach Unterlagen des Koblenzer Bundesarchivs, zugestanden worden.

Dienstag, d. 8. Mai 1945, sechster Tag der Reichsregierung Dönitz.

„Heute war der Generalfeldmarschall Dönitz wieder im Volksempfänger zu hören“, schreibt Cordsen. Der lobt den Durchhaltewillen der Deutschen und der Wehrmacht und verneigt sich, so habe ich es verstanden, vor der Tapferkeit der Soldaten.

Unsere Stadt ist voller Menschen. Auch bei uns wird es wegen der vielen Flüchtlinge eng. Hoffentlich ziehen die Leute bald in ihre Heimat zurück. Brot, Fleisch und Tabak werden knapp. Wir müssen bei manchen Geschäften stundenlang anstehen.

Alfred Rosenberg, eine weitere Nazigröße der NSDAP, der sich später als, nach Göring, der größte Kunsträuber seiner Zeit entpuppt, wird in der Fördestadt gesehen“.

Mittwoch, d. 9. Mai 1945, siebenter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Die letzten deutschen Kriegsschiffe kommen aus der Danziger Bucht zurück. Sie laufen Glücksburg und Kiel an. An Bord befinden sich an die 21.000 Flüchtlinge, Rote-Kreuz-Helfer und Soldaten“.

Unter Führung von Colonel Peter Andrew erreicht ein weiterer Trupp der britischen Soldaten Flensburg. In seinem Bericht vermerkt er: „Wir erleben bei unserem Inspektionsgang durch die Stadt keine offene Feindschaft, obwohl wir noch bis vor wenigen Tagen Feinde gewesen sind“!

Die an diesem Tage von Klaus Kahlenberg verlesene historische Meldung der Regierung im Reichssender Flensburg findet im Tagebuch von Cordsen keine Erwähnung. „ Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt. Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtlos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige, heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht unterlegen. Wir brachten den Wortlaut des letzten Wehrmachtsberichtes dieses Krieges. Es tritt eine Funkstille von drei Minuten ein“.

Als mein Sohn Leve und ich an unserem Buch zu den letzten Kriegstagen in Flensburg arbeiteten, habe ich diesen Text mehrfach gelesen, weil er unfassbar war. Keine Schulderkenntnis der Wehrmacht, keine Selbstzweifel, keine Reue, weder Demut noch Buße, statt dessen Legendenbildung. „Wir, die Wehrmacht haben mit dem was geschehen ist nichts, überhaupt nichts zu tun“!

Donnerstag, d. 10. Mai 1945, achter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Himmelfahrt in Flensburg. Die 11. Panzerdivision der Briten besetzt das nördliche Schleswig-Holstein. Sie, die Engländer, fordern Karl Dönitz auf, die Reichskriegsflagge einzuholen. Seit Beginn der Phantom-Regierung weht sie über dem Dienstsitz in Flensburg-Mürwik. Nur widerwillig, so berichteten später Augenzeugen, folgt der Hitler-Nachfolger dem Befehl der Engländer. Während gegen Mittag das Motorschiff „Homberg“ mit über 1.350 ausländischen KZ-Häftlingen den Flensburger Hafen in Richtung Schweden mit dem Ziel Malmö verlässt, erhält Generaloberst Jodl in einer Feierstunde mit Sekt die Brillanten zu seinem Ritterkreuz mit Eichenlauf verliehen. Das Nürnberger Kriegsverbrechergericht wird ihn Monate später zum Tode verurteilen.

Wieder gibt es ein Todesurteil in Flensburg gegen einen Matrosen. Das Kriegsgericht residiert auf dem Tender „Gazelle“. Es legt dem Gefreiten Johann Süß zur Last, am 7. Mai des Anheizen des Kessels seines Kriegsschiffes verweigert und damit das Auslaufen verhindert zu haben. Er sei ein „gefährlicher Hetzer“, stellt das Gericht fest, er untergrabe die Manneszucht in der Wehrmacht. Das gnadenlose Urteil wird am frühen Morgen des kommenden Tages vollstreckt, drei Tage nach Kriegsende!

Vor einigen Jahren hat sich ein 11. Jahrgang der Goetheschule intensiv mit der Lebensgeschichte von Johann Süß befasst. Die fachliche Begleitung erfolgte durch ihren Lehrer Thomas Grams. Beispielhafte politische Bildung mit einem regionalen wie konkreten Bezug!

Freitag, d. 11. Mai 1945, neunter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Erich Cordsen stellt in seinem Tagebuch fest: „Von heute auf Morgen gibt es in den Flensburger Straßen keine Männer mehr in SS-Uniformen“ und er notiert weiter „die Verknappung der Lebensmittel nimmt zu“! In seiner Heimatstadt erscheint jetzt ein Nachrichtenblatt der Militärregierung. Im Flensburger Hafen, der Innenförde, liegen in dieser Zeit wohl an die 250 Kriegs-Handelsschiffe und Boote von anderen Wehrmachtsteilen dicht gedrängt.

Von Broder Schwensen, Flensburgs verdienstvollem Stadtarchivar, der sich der Aufarbeitung der Nazigeschichte der Stadt vorbildlich angenommen hat, ist zu erfahren, dass mindestens 25.000 Menschen, Soldaten, KZ-Häftlinge, Verwundeten, Flüchtlinge diese Boote bevölkern. Sie alle müssen versorgt, gekleidet, ärztlich betreut und mit Informationen versorgt werden. Eine riesenhafte auch logistische Herausforderung für den Hafenkapitän und seine Helfer!

Sonnabend, d. 12. Mai 1945, zehnter Tag der Reichsregierung Dönitz.

In Idstedt bei Schleswig begeht der Chef des Generalstabes des Führungsstabes Nord, der General der Infanterie der 48 Jahre alte Eberhard Kinzel Selbstmord. Nicht nur er flüchtet durch einen „Freitod“ aus der Verantwortung. Eine ganze Reihe von SS-Leuten in Flensburg, sowie der Spitze der Wehrmacht, entziehen sich einer drohenden Verhaftung durch die Engländer, indem sie ihrem Leben feige ein Ende machen. Auch und gerade die Leiter der Konzentrationslager, unter ihnen Richard Glück, zählen dazu.

An diesem Tag erreicht die Alliierte Kontrollkommission beim Oberkommando der Wehrmacht die Fördestadt. Vierzehn Amerikaner und 11 Engländer beziehen auf der „Patria“ im Innenhafen ihre Quartiere. Einige Tage später stoßen auch die Russen dazu.

An diesem Sonnabend verbietet die britische Militärregierung den Unterricht an den Flensburger Schulen. In Mürwik um das „Regierungsviertel“ ist eine Bannmeile geschaffen. In anderen Teilen der Stadt wird mit der Beschlagnahmung von größeren Stadthäusern durch die Besatzungsmächte begonnen.

Erich Cordsen beklagt, dass es von gutsituierten Nachbarn zu Hamsterkäufen kommt. Er und seine Familie, weil sie die Verordnungen der Militärregierung befolgen, dadurch in eine Notlage geraten können.

Sonntag, d. 13. Mai 1945, elfter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel wird durch die Reichsregierung in Flensburg als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht seines Amtes enthoben und verhaftet. Ihm folgt, eingesetzt von Dönitz, Generaloberst Alfred Jodl. Dieser Wechsel erfolgt nicht freiwillig. Er basiert auf dem nachdrücklichen Wunsch des amerikanischen Generals Eisenhower, dem späteren Präsidenten seines Landes.

Erich Cordsen fallen mannshohe Tafeln im Stadtbild auf, aufgestellt durch britische Soldaten. Sie weisen unmissverständlich auf das Verbot aller NS-Verbände hin. Auch werden die Gesetze der Nationalsozialisten für null und nichtig erklärt. Und eine weitere Auflage verfügen die Engländer. Der Reichssender Flensburg hat mit sofortiger Wirkung sein Programm einzustellen. Die Alliierten wollen der deutschen Regierung kein Sprachrohr mehr bieten. Der Reichssender Flensburg, zehn Tage im Dienst der Regierung, wird abgeschaltet. Von ihm aus war der „Welt“ in drei Etappen das Ende des Krieges verkündet worden.

Montag, d. 14. Mai 1945, zwölfter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Erich Cordsen notiert in seinem Tagebuch, dass jetzt über dem Polizeipräsidium die Flaggen der Siegermächte wehen. Ihn erreichen Gerüchte, der Kampfkommandant von Flensburg, der Kapitän zur See Wolfgang Lüth, sei in Ausübung seines Dienstes in der Nacht erschossen worden. Später fügt er hinzu, der Lüth soll alkoholisiert gewesen sein.

Als Lüth in der Dunkelheit von einem Wachposten angerufen und nach dem Losungswort gefragt wird hat er es vergessen und wird sofort erschossen. Der bis in die heutige Gegenwart umstrittene, viel dekorierte U-Boot-Kommandant erhält ein Staatsbegräbnis.

Dönitz, der Nachfolger Hitlers, wird in Kollerup (Angeln) auf dem Jakobsenhof gesichtet. Dort haben ranghohe Offiziere in mehreren Räumen das Generalstabs-Hauptquartiert eingerichtet. Bereits im September 1944 waren Soldaten in das Dorf gekommen, um Quartiere vorzubereiten. Die Abgeschiedenheit des Ortes in der Nähe der Straße Sörup-Tarp in einer waldreichen Umgebung bietet weitgehend Schutz vor feindlichen Bombern.

Die eigentliche Zentrale befindet sich auf dem Christiansen-Hof. Von hier aus verfügt General Ernst Busch, der Oberbefehlshaber Nord, Anfang Mai die absolute Waffenruhe für alle deutschen Soldaten. Wenige Tage nach der Kapitulation hat Busch auf Anordnung des britischen Feldmarschalls Montgomery die Versorgung der Menschen in Schleswig-Holstein sicherzustellen. In dieser Zeit ist Kollerup nicht nur mit mehr als 350 Offizieren und Soldaten belegt, sondern an beiden Ortsdurchfahrten sind Schlagbäume angebracht, an denen schwer bewaffnete Wachposten ihren Dienst tun.

Dienstag, d. 15. Mai 1945, dreizehnter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Die alliierte Kontrollkommission, die eigentliche Macht in der Stadt, ordnet an, dass Soldaten auf der Straße nicht mehr beim Marschieren singen dürfen. Daraufhin befiehlt Dönitz seinen „Truppen“ es wird nur noch gepfiffen. Und eine weitere Anordnung erfolgt auch auf Druck der Briten, Todesurteile darf es durch Standgerichte nicht mehr geben.

Cordsen beklagt, dass die Post ihren Dienst eingestellt hat und Briefkästen geschlossen werden. Der aufmerksame Tagebuchschreiber erwähnt auch eine Mahnung der Flensburger Nachrichten an Eltern und Jugendliche: „Nicht selten treffe man Kinder unter 14 Jahren mit einem brennenden Zigarettenrest im Mund bettelnd vor englischen Unterhaltungsstätten, Kabaretts und Varietés an. Damit solle jetzt gründlich Schuss sein. Die Eltern werden durch die Zeitung zur energischen Mitwirkung aufgefordert“.

An diesem Dienstag werden der Oberbürgermeister und der Polizeipräsident von Flensburg von ihren Ämtern enthoben und in Haft genommen.

Mittwoch, d. 16. Mai 1945, vierzehnter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Die Geschäftsführende Reichsregierung Dönitz ist eifrig mit Planspielen beschäftigt, entwickelt Denkschriften und entwirft Zukunftspläne für ein Reich, das nicht mehr existierte. Über 350 Menschen sind in der Mürwiker Sportschule für diese Scheinregierung tätig. Jedes Ressort verfügte über bis zu 15 Beschäftigte. Der Abschied von der Macht fällt schwer. Wirtschaftsminister Albert Speer, der sich im Glücksburger Schloss einquartiert hatte, zieht als erster die Konsequenz aus dieser Entwicklung und bittet frühzeitig um seine Entlassung. Er hält – so in seinen Erinnerungen – gar nichts vom Prinzip Hoffnung dieser Regierung! Der Großadmiral Karl Dönitz und seine engsten Vertrauten bauen darauf, dass die siegreichen Alliierten sich über kurz oder lang so zerstreiten würden, dass sie bei diesem Notfall sofort auf eine deutsche Regierung zurückgreifen, die habe schließlich auch bei der Regelung der Flüchtlingsfrage viel Gutes bewirkt!

Um die Alliierten von der Notwendigkeit des Fortbestandes des Mürwiker Kabinetts zu überzeugen, reicht Reichsernährungsminister Herbert Backe eine Denkschrift zur Ernährungslage für 60 Millionen Deutsche ein. Es stände einer der härtesten und strengsten Winter in der Geschichte Deutschlands bevor. Es fehlen Arbeitskräfte auf dem Lande, weil die meisten Männer in Kriegsgefangenen-Lagern inhaftiert seien. Bemerkenswert zu diesem Sachverhalt ist die Stellungnahme von A.W. Lewis, des entscheidenden englischen Offiziers in der Militärverwaltung. „Die Bevölkerung in den deutschen Städten ist für viele Monate zu einem Rattenleben verurteilt. Wir betrachten die Angelegenheit vom militärischen Standpunkt aus. Die Deutschen müssen noch ein hartes Leben führen, um eine Änderung zu erreichen, genauso wie die in Not geratene Bevölkerung Londons und aller Länder Westeuropas. Ich werde nicht gestatten, dass die Leute in Kellern und Luftschutzräumen leben, wenn dadurch Krankheiten zu erwarten sind. Die Deutschen brauchen nicht zu glauben, dass sie Zucker, Fett und Hefe annähernd in normalen Rationen erhalten werden, aber sie werden etwas zu essen bekommen“.

Diese Auffassung des Offiziers war kennzeichnend für die britische Besatzungsmacht, die zwischen den Verbrechen und Verfehlungen der NS-Verantwortlichen und der Not der Zivilbevölkerung sehr wohl unterscheidet. An diesem Mittwoch müssen die deutschen Soldaten in Mürwik ihre Waffen an die Engländer abgeben. Nicht so die Offiziere, ihnen wird erlaubt ihre Waffen weiter tragen zu dürfen.

Donnerstag, d. 17. Mai 1945, fünfzehnter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Heute trifft bei der Regierung Dönitz die russische Kontrollkommission ein. Sie verlangt von der „Gespenster-Regierung“ alle die Auskünfte, die sie auch den Briten und Amerikanern gegeben hat. Angeführt wird die Delegation von General Trueskow. In einem Treffen mit Generaloberst Jodl am kommenden Tag erklärt er: „Sie kennen die Absicht Stalins aus Rundfunk und Presse. Wir haben nicht die Absicht, das deutsche Volk auszuhungern oder auszurotten. Wir sind bestrebt, alles zu tun, um dem deutschen Volk zu helfen“. Die von Jodl vorgetragenen Aktivitäten und Wünschen verlaufen dagegen bei diesem Gespräch ins Leere.

Erich Cordsen beklagt die Lebensmittelknappheit. Sie billigt ihm nur 1.200 Kalorien täglich zu, das seien 5 Scheiben Brot, 10 gr. Fett und ein Glas Milch. Oft bekäme er sogar weniger. Zuviel zum Sterben, zu wenig zum Leben! Er hat auch von Razzien gehört. Besonders das Sammellager Meierwik werde häufig aufgesucht. Nicht nur wegen Diebesgut und Waffen, sondern auch wegen der Frauen und Mädchen. Man höre, dass Geschlechtskrankheiten immer mehr würden. Der Anteil der Jugendlichen sei besonders hoch. Und auch die Zeile ist bei ihm zu lesen: „Der Hunger ist mein ständiger Begleiter“!

Freitag, d. 18. Mai 1945, sechzehnter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Die Englänger haben bei ihrer Suche nach Kriegsverbrechern Erfolg. Im Lazarett der Marineschule in Flensburg-Mürwik spüren sie Alfred Rosenberg auf, der durch seine Rassenideologie einer der entscheidenden Wegberater des Nationalsozialismus in Deutschland ist. Insgesamt gehen den Briten an die 2.000 Angehörige von Naziorganisationen ins Netz. Zu ihnen gehören höchste Funktionäre, auch Gestapoleute sowie KZ-Aufseher. Ihnen allen hat ihre neue – gefälschte – Identität nichts gebracht, auch nicht ihre „Verkleidung“.

An diesem Freitag fällt die grundsätzliche Entscheidung, der Dönitz-Groteske ein Ende zu machen. Voraus gegangen ist eine Besprechung von Admiral Dönitz und General Jodl mit Mitgliedern des Alliierten Kontrollrates. Beide waren nach Schilderung von Augenzeugen überaus arrogant in der Besprechung aufgetreten und hatten eine Denkweise an den Tag gelegt, die die Offiziere der Siegermächte nur die Köpfe schütteln lässt. So besteht Dönitz weiter auf die Vorzüge einer Diktatur, verurteilt den Wahnsinn der Parteien von 1933. Was Deutschland, seine Wehrmacht und sein Volk für die Entschuldung nach dem 1. Weltkrieg geleistet habe, sei einmalig in der Geschichte und der Welt. „Es sei ein dagewesenes Heldentum“! Er fordert mehr Macht, mehr Einfluss für „seine Regierung“ und zeigt keine Einsicht, was die Verbrechen im deutschen Namen betrifft. Strikt wird von ihm der Holocaust geleugnet. Er fordert bei diesem Treffen eine Verlegung des Regierungssitzes von Flensburg weg in einen zentral gelegenen Raum. Als Gründe dafür wird die ungünstige nachrichten- wie verkehrstechnische Lage des Flensburger Raumes angeführt.

Mit all seinen Ansinnen blitzt der Großadmiral nicht nur ab, sondern die Kontrollkommission wird in ihrer Auffassung von der Unbelehrbarkeit des Hitler-Nachfolgers bestätigt. Der Regierungsspuk, so die Auffassung der Alliierten, muss in Mürwik zu Ende gebracht werden! Der Plan für die Verhaftung der gesamten Regierung wird konkretisiert und die Umsetzung durchgeplant.

Sonnabend, d. 19. Mai 1945, siebzehnter Tag der Reichsregierung Dönitz.

Pfingstsonnabend. Erich Cordsen führt in seinem Tagebuch Klage. Weder Mehl noch Eier seien aufzutreiben, kein Zimt, kein Zucker und Mandeln wie Nüsse schon gar nicht. Der in seiner Familie am Pfingstsonntag übliche Topftkuchen muss wohl ausfallen, wenn nicht doch ein Wunder geschieht“.

Eine Notiz über die Reichsregierung in diesen Tagen findet sich in seinen Aufzeichnungen nicht. Jedoch im Koblenzer Bundesarchiv liegt ein Vermerk vor, dass an diesem Sonnabend Admiral Speer in seinem Glücksburger Schlossquartier Besuch von zwei einflussreichen Amerikanern erhält, die ihn verhören sollen. Georg Ball, später US-Außenminister sowie der Volkswirtschaftler John Galbraith. Sie sind im Auftrag von General Eisenhower über den Flugplatz Schäferhaus in Flensburg eingeflogen.

Sonntag, d. 20. Mai. und Pfingstmontag, d. 21. Mai 1945, der achtzehnte wie neunzehnte Tag der Reichsregierung Dönitz.

Dieses sonnige Pfingstfest in Flensburg kann nicht die Not und das Elend der tausenden von Flüchtlingen verklären, von elternlosen Kindern, verarmten Familien in der Stadt, noch das Schicksal der vielen Frauen deren Männer sich in Kriegsgefangenschaft befinden oder in diesem verdammten Weltkrieg ihr Leben verloren haben.

Von der Reichregierung liegen für diese Tage keine Verlautbarungen vor.

Unter englischen Offizieren wird jedoch über ein Schreiben diskutiert, das in dieser turbulenten Zeit der Feldmarschall Montgomery aus Kopenhagen erhalten hat. Er möge beurteilen, ob es nicht nach der Kapitulation des Deutschen Reiches angemessen sei, dass das Nydam-Boot endlich einen ihm zustehenden Standort im südlichen Dänemark bekäme. Die archäologische Kostbarkeit, 23 Meter lang, für eine Besatzung von 45 Mans ausgelegt, 1863 im Nydam-Moor in der Nähe von Sonderburg geborgen, ist das älteste erhaltene hochseetüchtige Ruderboot der Germanen. Ausgegraben hatte es der Flensburger Conradt Engelhard, Lehrer an der Gelehrtenschule. Obwohl dänischer Patriot, lagerte er seinen Fund zuerst auf dem Dachboden seiner Flensburger Schule. Schon 1864 wurde dieses Boot zu einem Zankapfel zwischen Dänen und Deutschen. Auch wieder nach dem 1. Weltkrieg, wo es u.a. in Kiel eingelagert war. Nun startete die dänische Regierung einen erneuten Versuch, dieses archäologische Prachtstück zu erhalten, neun Tage nach Kriegsende! Doch die Briten weisen dieses Begehen ab. Für sie war und blieb dieses Exponat ein Schlüssel für die Geschichte der Landnahme der Angeln in ihrem Land, in England. Es soll seinen Standort in Schleswig-Holstein behalten.

Dienstag, d. 22. Mai 1945, zwanzigster Tag der Reichsregierung Dönitz.

Am Nachmittag dieses Tages wird der Schlussakkord für die Reichsregierung Dönitz eingeläutet, wird dem Spuk ein Ende gemacht. Die drei ranghöchsten Offiziere Dönitz, Jodl und von Friedeburg werden aufgefordert, am kommenden Tag um 9.30 Uhr an der Blücherbrücke zu erscheinen. Die Besprechung werde auf der „Patria“ stattfinden.

Der 50-jährige Hans-Georg von Friedeburg, Nachfolger von Dönitz als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, wird dieser „Einladung“ nicht folgen. Er entzieht sich der Verhaltung, bleibt in der Marineschule. Bevor er mit Gift Selbstmord begeht, legt er alle seine Orden und Auszeichnungen an, entzieht sich damit jeglicher Verantwortung.

Mittwoch, d. 23. Mai 1945, einundzwanzigster Tag der Reichsregierung Dönitz.

Aus den Protokollen des Koblenzer Bundesarchivs ist erkennbar, dass US-General Eisenhower Wert darauf legt, die Gefangennahme der letzten Nazi-Regierung als Spektakel für die Weltöffentlichkeit zu inszenieren. Es werden dafür – extra aus Paris – wohl an die 80 Reporter, Fotografen und Kamerateams eingeflogen, die die Festnahme von Albert Speer, Karl Dönitz und Alfred Jodl dokumentieren und aller Welt verkünden sollen. Bewusst werden diese letzten aktiven Nationalsozialisten gedemütigt. Die Alliierten wollen den endgültigen Bruch mit Nazi-Deutschland und den Neubeginn demonstrieren.

Im Rahmen der Verhaftung beschwert sich Dönitz darüber, nur einen Koffer mitnehmen zu dürfen, dass sei einem Offizier mit Rang, wie er es sei, nicht würdig! Nicht nur die letzten Repräsentanten des Nazi-Regimes müssen sich peinlichen Untersuchungen vor laufender Kamera unterziehen, auch für die Soldaten heißt es: „Hose runter, Hände hoch“. Unter starker Bewachung werden die drei hochrangigen Offiziere vom Sonderbezirk Mürwik zum Flensburger Polizeipräsidium gefahren. Hier findet eine weitere körperliche Untersuchung statt, anschließend erfolgt im Innenhof des Präsidiums das „Kreuzfeuer“ der Fotografen. Würde und Anstand werden den letzten Verantwortlichen, den Unbelehrbaren, mit Absicht genommen. Darüber beschwerte sich Karl Dönitz aus der Haft in einem Brief am 26. Mai gegenüber Montgomery. „Ohne jede Rücksicht auf meinen Dienstgrad musste ich mich einer entehrenden Leibesvisitation unterziehen. Aus meinem Privatgepäck wurde auch mein Marschallstab entnommen, dieses Ehrenzeichen eines Soldaten! Ich bringe Ihnen diese diffamierenden Vorkommisse mit der Aufforderung zur Kenntnis, dass eine Rückgabe meines Marschallstabes erfolgen wird“.

Dazu kommt es nicht, die Briten behalten die Kriegsbeute. Diese Siegestrophäe hat ihren Platz im Regimentsmuseum der King’s Shropshire Light Infantry in der Nähe von London gefunden. Auch die erbeutete Reichskriegsflagge ist dort ausgestellt.

Zusammen mit der Reichsregierung werden nicht nur die Offiziere des OKW verhaftet, sondern weitere 420 hohe Offiziere und Beamte. Der Schlusspunkt an diesem sonnigen Mittwoch zeigt aller Welt, der NS-Staat hat aufgehört zu existieren. Im nüchternen Innenhof des Flensburger Polizeipräsidiums geht das „3. Reich“ endgültig zu Ende.

Im Tagebuch von Erich Cordsen ist für diesen 23. Mai 1945 die Zeile zu finden: „Heute marschieren wieder unsere Marinesoldaten heldenhaft mit Gesang durch Flensburg. Die Lieder rühren mich. Erinnerungen werden wach. Was haben wir für eine schreckliche, aber auch schöne Zeit gehabt“!

Die Tage der Reichsregierung Dönitz in Flensburg sind mehr als eine Fußnote in der Geschichte. Hier findet der endgültige Untergang des „3. Reiches“ statt, hier zeigt sich der ganze Widersinn des Nazireiches, hier dokumentieren die Alliierten ihren Willen für die Zukunft.

Erst am 5. Juni 1945 übernehmen die Siegermächte formell die oberste Regierungsgewalt in Deutschland.

Weiterführende Literatur:

„Flensburg in der Zeit des Nationalsozialismus“, Schrift der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte e.V. Nr. 32, Sept./Okt. 1983

„Mai 45“, Gerhard Paul und Broder Schwensen, Hrg. Flensburger Stadtgeschichte, 2015

Julius Bogensee: „Als der Krieg in Flensburg ankam“, Flensborg Avis, 4. Mai 1985

Stephan Richter, zwölfteilige Serie zum Kriegsende, Mai 2015, s.h.z., Flensburger Tageblatt

Wolfgang und Leve Börnsen „Vom Niedergang zum Neuanfang“, Neumünster 2009, 3. Auflage

Der Autor: Wolfgang Börnsen (Bönstrup), am 26.4.1942 in Flensburg geboren, war Realschullehrer an der Käthe Lassen Schule, Lehrbeauftragter an der PH, MdB 1987 – 2013, Autor mehrerer Sachbücher, Niederdeutsche Theaterstücke, sowie der Romane „Die Angeln Saga“.